Christian Bayerlein: „Ich bin mit meinem Körper im Reinen“ (Teil II)

Der Diplom-Informatiker lebt seine Sexualität aus und steht öffentlich dazu.

Ein Künstler, der ihn als Akt gemalt hat, empfand seinen Körper als „Wollknäuel“. Christian Bayerlein selbst bezeichnet sich als „Sex-Nerd“, hat Erfahrungen mit Monogamie, offener Beziehung, Fetisch und Formen von Sado-Maso gesammelt. Ganz schön provokant, findet mancher. Doch der Koblenzer hat die Diskussion, wie offensiv er mit dem Thema Sex umgehen will, für sich längst abgeschlossen. Er lebt mit spinaler Muskelatrophie und tritt selbstbewusst für selbstbestimmte Sexualität für Menschen mit Behinderung ein.
© Björn Lubetzki
Christian Bayerlein
Der Diplom-Informatiker Christian Bayerlein (43) ist ein Vorreiter für selbstbestimmte Sexualität von Menschen mit Behinderung.

MOBITIPP: Was ist denn ein Sex-Nerd? So bezeichnen Sie sich ja selbst.

Christian Bayerlein: Ich fühle mich ganz allgemein als Nerd, weil ich schon immer gern versuche, Themen in der Tiefe zu erfassen und daraus meine eigenen Schlüsse zu ziehen. Dabei geht es mir auch um persönliche Weiterentwicklung.

Das gilt auch für die Sexualität. Ich lasse mich intellektuell und körperlich darauf ein. Mit meinen 43 Jahren habe ich natürlich auch schon viel erlebt.  Das muss man aber wollen und dafür auch etwas wagen – Gefühlsaufruhr zum Beispiel.

Ein langer Prozess der Selbstfindung

MOBITIPP: Ist Ihnen der Umgang mit Intimität und Liebe schon immer leicht gefallen?

Christian Bayerlein: Nein, das war ein langer Prozess. Er hat ziemlich spät in der Pubertät begonnen, so etwa mit 16 Jahren. Ich war charmant und habe mit den Mädels geflirtet. Aber auf Partnerebene gab es keine Resonanz. Ich war mehr in der Bester-Freund-Schublade nach dem Motto ‚Der ist ja so lieb und aufmerksam und man kann gut mit ihm reden‘.

Irgendwie schien ich nicht auf dem Radar der Suchenden zu sein. Das ging anderen zwar auch so, aber ich hatte das auf meine Behinderung geschoben und mich nicht wirklich als begehrenswert empfunden. Ich bekam das Gefühl, dass ich allein bleiben könnte oder zumindest nicht viele Partner in meinem Leben haben werde. Das war schon ein starker Leidensdruck.

MOBITIPP: Wie ergab sich dann Ihre langjährige Beziehung?

Christian Bayerlein: Als ich 25 Jahre alt war, hatte ich meine erste echte Beziehung. Diese Frau habe ich im Internet im Klingonen-Fanklub kennengelernt. Sie war nicht behindert und ist auf mich zugegangen. Das Verlieben ging ganz schnell. Ich hätte mich zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht getraut, den Kontakt zu vertiefen und auch nicht wirklich gewusst, wie ich das machen sollte.

MOBITIPP: Was war das für eine Beziehung?

Christian Bayerlein: Wir haben eine ziemlich klassische Beziehung geführt und sehr lange Liebe füreinander empfunden. Wir haben auch zusammengewohnt. Doch nach sieben Jahren ging das auseinander. Meine Partnerin hat mich verlassen.

Ich hatte mich zwar in diesen Jahren auch als Persönlichkeit weiterentwickelt und habe an Selbstbewusstsein gewonnen. Trotzdem brach für mich erst einmal die Welt zusammen. Ich dachte: Das war es jetzt. Jetzt stehst du wieder ganz am Anfang.

MOBITIPP: Wie ging es weiter?

Christian Bayerlein: Ich habe beschlossen, das Thema Intimität und Beziehung systematisch anzugehen: Wo und wie kann ich herausfinden, was mir im Zwischenmenschlichen gefällt? Wo und wie könnte sich eine neue Beziehung ergeben? Dann habe ich einfach viel ausprobiert und so etwas wie eine zweite Pubertät erlebt.

Ich habe es mit Sexualassistenz probiert und bin viel in Kreise gegangen, die offen mit Sexualität umgehen. Zweimal habe ich an Wochenendseminaren am Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter ISBB in Trebel teilgenommen. Ich bin dann aber auch schnell über das Internet mit verschiedenen Leuten in Kontakt gekommen.

Entdeckung der Wohlfühlzone

MOBITIPP: Sind diese Kontakte auch verbindlicher geworden?

Christian Bayerlein: Über das Internet habe ich zum Beispiel eine Frau kennengelernt, mit der ich in einer offenen Beziehung gelebt habe. Das war emotional sehr anstrengend, aber auch lehrreich. Ich war gezwungen, mich selbst zu öffnen. Gleichzeitig habe ich gemerkt, was ich nicht will und wo meine Wohlfühlzone ist.

Über diese Beziehung bin ich wieder mit anderen Menschen in Austausch gekommen. So habe ich mich nach und nach mit den verschiedenen Themen beschäftigt. Auch auf der tieferen intellektuellen Ebene. Darauf bezog sich übrigens auch meine Aussage, ich sei ein Sex-Nerd. Mich interessiert einfach, was Menschen anspricht, woher eine Anziehung kommt und wodurch Erotik entsteht.

MOBITIPP: Welche körperlichen Empfindungen sind Ihnen möglich?

Christian Bayerlein: Ich spüre zwar meinen Körper, wenn mich ein Mensch berührt und ich kann auch eine Erektion bekommen. Aber in der Bewegung bin ich aufgrund meiner Behinderung eingeschränkt. Sexualbegleitung ist dennoch keine Lösung für mich, weil ich gerne spontanen Sex erleben möchte. Das ist über Sexualbegleitung kaum möglich.

MOBITIPP: Wie leben Sie heute?

Christian Bayerlein: Ich bin seit vier Jahren in einer monogamen Partnerschaft mit einer Frau, die künstlerisch tätig ist. Die positiven Werte einer offenen Beziehung – Toleranz, Offenheit, Respekt, die Bereitschaft, sich für Gefühle zu öffnen – kann man auch in einer monogamen Partnerschaft leben.
In meinem Herzen habe ich ein großes Verständnis für eine offene Beziehung. Aber das ständige Verhandeln von Grenzen finde ich zu anstrengend.

MOBITIPP: Was ist Ihr Fazit auf Ihren bisherigen Erfahrungen?

Christian Bayerlein: Behinderte Menschen sehen sich oft selbst nicht als ernst zu nehmende Sexualpartner – selbst dann nicht, wenn sie eine tolle Ausstrahlung haben und interessante Gesprächspartner sind. Viele müssen erst einmal den Kern ihres Wesens entdecken. Dann können sie sich auch mit einem anderen Selbstbewusstsein auf Partnersuche machen. Und mal eine Ablehnung leichter wegstecken – was im Übrigen auch für nicht behinderte Menschen nicht einfach ist.

(Text: Brigitte Muschiol)

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